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Presseartikel 2.Mai 2016

 

Goslarsche Zeitung

 

Hartz IV: „Reine Schikane für die Menschen“

 

Inge Hannemann war Mitarbeiterin in einem Hamburger Jobcenter und kritisiert vor allem die Sanktionspraxis

 

GOSLAR. Inge Hannemann rechnet mit den Hartz-IV-Gesetzen rigoros ab. Sie ist zwar nicht die erste Kritikerin der umstrittenen Sozialreformen, die mit der Agenda 2010 einhergingen. Doch Hannemanns Fall ist besonders, weil sie als Mitarbeiterin im Jobcenter in Hamburg-Altona selbst Teil des Hartz-IV-Systems war, das sie so scharf kritisiert. Das „Netzwerk für soziale Gerechtigkeit" hat die 48-Jährige ins Ramada-Hotel „Bären" nach Goslar eingeladen. Vor rund 50 Zuhörern ging die Frau, die inzwischen für die Partei „Die Linke" in der Hamburger Bürgerschaft sitzt, vor allem mit der Sanktionspraxis ins Gericht, mit der Hartz-IV-Empfänger umgehen müssen. 70 Prozent der Sanktionen würden wegen Meldeversäumnissen ausgesprochen, sagte Hannemann. Im Extremfall könnte ein Sachbearbeiter die Leistungen komplett streichen. Hannemann lehnte während ihrer Zeit beim Jobcenter das Verhängen von Sanktionen ab, auch wenn sie in Einzelfällen nicht drum herum gekommen sei. Aber das Druckmittel funktioniere nicht. Stattdessen „verlieren wir viele Menschen dadurch". Gerade Jüngere treibe man mit Sanktionen in Kriminalität oder Obdachlosigkeit. Wegen Hannemanns auch öffentlich geäußerter Kritik stellte sie ihr Arbeitgeber im April 2013 frei. Als „Hartz-IV-Rebellin" ging sie durch die Medien. Die Regeln zum „Arbeitslosengeld II", so der offizielle Name, bezeichnet Hannemann als bewusste Schikane. Es gehe nicht darum, die Menschen möglichst schnell in Arbeit zu bringen, sondern Geld einzusparen. Bis 2014 habe es in den Jobcentern sogar Sanktionsquoten gegeben, die erfüllt werden mussten. Die Reform der Hartz -IV-Gesetze, die ab August in Kraft treten soll, nannte Hannemann „eine Veräppelung". Zwar würden kleinere Formalitäten vereinfacht, eine bürokratische Entzerrung, das ausgegebene Hauptziel der Gesetzesnovelle, werde aber nicht erreicht - „sondern eher das Gegenteil." Und weitere Schikanen für die Bezugsempfänger würden eingebaut: So werde zum Beispiel nach dem neuen Gesetz Müttern, die getrennt vom Vater leben und Hartz IV beziehen, der Kinderzuschuss für die Tage entzogen, die das Kind beim Vater verbringt. Die Fixkosten bleiben aber die gleichen, auch wenn das Kind nicht da sei, so Hannemann. Hinzu komme der Aufwand, zu dokumentieren und nachzuweisen, wo sich das Kind wann aufhält. Statt blind zu sanktionieren, sollten sich die Jobcenter-Mitarbeiter fragen, warum jemand einen Termin nicht wahrgenommen hat. Welche Probleme gibt es? Doch dazu fehle den Sachbearbeitern auch häufig die Zeit. Ein weiteres Manko, findet Hannemann.

 

Inge Hannemann - Hartz IV
Inge Hannemann arbeitete selbst in einem Jobcenter und kritisiert die Hartz-IV-Gesetze

 

SANKTIONEN. Im September 2015 waren beim Jobcenter Goslar insgesamt 8640 erwerbsfähige Leistungsberechtigte erfasst. Gegen 221 Menschen waren zu dem Zeitpunkt 372 Sanktionen verhängt worden. Durchschnittlich wurden die Leistungen um 109,50 Euro gekürzt. 33 Menschen sind von Oktober 2014 bis September 2015 ganz aus den Leistungen herausgefallen, in 12 Fällen wurde die Sperrung noch nicht vollzogen. 729 Sanktionen wurden in diesem Zeitraum neu ausgesprochen.